Am 13. Mai hat die Europäische Kommission eine neue Europäische Migrationsagenda veröffentlicht. Die langfristig strategisch ausgerichtete Agenda versucht als Reaktion auf die Krisensituation im Mittelmeer, drängende Fragen zu beantworten, und formuliert Vorschläge für Sofortmaßnahmen und Richtlinien für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU). Während die EU-Kommission unter den Mitgliedstaaten um Zustimmung für ein solidarisches Handeln wirbt, fühlen diese sich in ihrer Souveränität eingeschränkt. Internationale Organisationen prangern die Militarisierung der Außengrenzen an.

Migrationsagenda

Die neue, zahlreiche migrationspolitische Fragen aufgreifende Agenda der EU knüpft an den Zehn-Punkte-Plan vom April 2015 an. In der Asyl- und Flüchtlingspolitik soll sie dazu beitragen, einerseits den Grenzschutz zu stärken, andererseits die Asylsuchenden gerechter auf die EU-Länder zu verteilen und legale Einreisewege nach Europa zu schaffen. Nach der finanziellen und technischen Mittelaufstockung für die Seenotrettung, die bei der Sondertagung des Europäischen Rates am 23. April 2015 beschlossen wurde, sollen nun weitere Gelder, insbesondere für den Grenzschutz, zur Verfügung gestellt werden. So will die EU-Kommission weitere 89 Mio. Euro investieren, um die Überwachung der europäischen Seegrenzen auszubauen.

Der strategische Fokus der Agenda liegt auf dem Kampf gegen Schlepperbanden, was von zahlreichen internationalen Organisationen kritisiert und in den Medien kontrovers diskutiert wurde. Die Zerstörung von Schlepperbooten stellt dabei die umstrittenste Maßnahme des Aktionsplans im Rahmen der neuen EU-Migrationsagenda dar. Die vorgesehene Marine-Operation soll Schiffe der Schlepperbanden auffinden und zerstören, um die Geschäftsgrundlage der Schlepper zu zerschlagen. Ein konkreter Plan der EU-Kommission zu dieser Operation wird Ende Juni erwartet, schon jetzt werden aber die Rechtmäßigkeit dieses Vorgehens angezweifelt und die Erfolgsaussichten als fragwürdig kritisiert.

Derzeit strebt die EU die Zustimmung des UN-Sicherheitsrats zu einem Marineeinsatz im libyschen Hoheitsgebiet sowie die Unterstützung der libyschen Regierung an. UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon äußerte in Brüssel vor dem Europaparlament Zweifel bezüglich der Rechtmäßigkeit einer Militärintervention gegen die Schlepper und sagte, es gebe „andere Möglichkeiten“, diese zu bekämpfen. Er betonte die Verantwortung der EU, vorerst mehr Flüchtlinge aufzunehmen, anstatt auf militärische Mittel zurückzugreifen.

Situation der EU-Asylpolitik

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Derzeit werden von den EU-Mitgliedstaaten Vorschläge zur Umverteilung von Flüchtlingen aus Staaten an der EU-Außengrenze auf der Basis einer zunächst vorübergehenden Quotenregelung verhandelt, um die Grenzstaaten unmittelbar zu entlasten und eine solidarische Verteilung der Schutzsuchenden in Europa zu erreichen. Damit würde die Dublin-Regelung zumindest teilweise aufgehoben, denn dieser zufolge sollen Asylanträge im Regelfall in dem EU-Mitgliedstaat gestellt und bearbeitet werden, den Geflüchtete als Erstes betreten. Von der aktuellen Flüchtlingskrise besonders betroffen sind Griechenland, Italien, Malta und Ungarn, weil Schutzsuchende meist über diese Staaten in die EU einreisen. Die Dublin-Regelung führte zur Überlastung dieser Staaten an den EU-Außengrenzen.

Experten weisen jedoch immer wieder darauf hin, dass das Dublin-System in der Praxis nicht funktioniert. So wandern viele Flüchtlinge in andere EU-Länder weiter, in denen bereits Angehörige leben oder vermeintlich bessere wirtschaftliche Aussichten bestehen, um dort einen Asylantrag zu stellen. Kann ihnen nachgewiesen werden, dass sie über einen anderen EU-Staat wie Griechenland oder Italien in die EU eingereist sind, müssten sie zur Bearbeitung ihrer Asylanträge in diese Länder überstellt werden.

Aufgrund von „systemischen Mängeln“ im griechischen Asylsystem hat der Europäische Gerichtshof im Dezember 2011 jedoch entschieden, dass Asylsuchende nicht mehr nach Griechenland überstellt werden dürfen. Im November 2014 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass eine Überstellung von Familien nach Italien nur dann erfolgen darf, wenn für jedes Familienmitglied sichergestellt werden kann, dass eine Unterbringung nach Maßgabe der EU-Aufnahmerichtlinie gewährleistet wird.

EU-Mitgliedstaaten wie Dänemark, Deutschland, Frankreich, Österreich und Schweden rücken deshalb in den Fokus der EU-Asylpolitik. Sie haben 2014 den Großteil der 625.000 Asylsuchenden in der EU aufgenommen. Nach neuesten Zahlen des Europäischen Statistikamtes stellte im vergangenen Jahr jeder dritte Schutzsuchende einen Antrag in Deutschland (32 %). Danach folgen Schweden (13 %), Italien und Frankreich (jeweils 10 %) sowie Ungarn (7 %). Relativ zur Bevölkerungsgröße verzeichnete Schweden die höchste Quote von Asylsuchenden (8,4 Antragsteller pro Tausend Einwohner), gefolgt von Ungarn (4,3), Österreich (3,3), Malta (3,2) und Dänemark (2,6). Deutschland folgt hier erst an sechster Stelle (2,5).

Umverteilung: Die vorübergehende Quotenregelung soll nun als Pilotprojekt für eine gerechtere Verteilung der Asylsuchenden getestet werden. Dabei sollen 24.000 Personen aus Italien und 16.000 Menschen aus Griechenland, die „eindeutig internationalen Schutz benötigen“, auf die übrigen EU-Mitgliedstaaten umverteilt (Relocation) werden, weil beide südeuropäische Staaten mit einem „außergewöhnlich hohen Zustrom von Migranten“ konfrontiert sind. Im vergangenen Jahr wurden 60 % aller irregulären Grenzübertritte in der EU in Italien registriert, 19 % in Griechenland.

Die meisten der für die Umsiedlung vorgesehenen Flüchtlinge stammen aus Syrien und Eritrea und würden auf der Basis einer Quote, die Bevölkerungszahl, Wirtschaftsleistung, Arbeitslosenquote sowie Anzahl der bereits aufgenommenen Flüchtlinge berücksichtigt, verteilt werden. Im Zuge dieser „Notumsiedlung“ entfielen rund 9.000 Menschen auf Deutschland.

Debatte um Quotenregelung

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Ob ein solcher Verteilungsschlüssel tatsächlich in Kraft treten wird, sollen die EU-Innenminister bei ihrem Treffen am 16. Juni abstimmen. Doch schon jetzt regt sich in einigen EU-Staaten Widerstand gegen die Pläne der EU-Kommission, die noch der Zustimmung der Mitgliedstaaten bedürfen. Diese sehen sich in ihrer Souveränität eingeschränkt und fürchten, dass die Vorschläge dauerhaft die Dublin-Regeln aushebeln könnten. Insbesondere mittel- und osteuropäische Länder wie Polen, Ungarn und Tschechien äußern Widerspruch gegen die Quotenregelung, weil sie bereits genügend Flüchtlinge durch den bewaffneten Konflikt in der Ukraine aufnähmen.

Frankreich, Dänemark und das Vereinigte Königreich sprechen sich ebenfalls gegen die geplante Quotenregelung aus. Großbritannien und Irland sind auf Basis der „Opt-In“-Regelungen im Vertrag vom Maastricht nicht an der Teilnahme am Verteilungsschlüssel verpflichtet, Dänemark wird sich aufgrund seines expliziten „Opt-Out“-Rechts nicht beteiligen.

Wie die Abstimmung ausfällt, hängt vor allem von Deutschland und Frankreich ab. Die Innenminister beider Länder, Thomas de Maizière (CDU) und Bernard Cazeneuve (PS), halten die Kommissionspläne zwar für eine gute Grundlage auf dem Weg zu einer europäischen Flüchtlingspolitik, forderten bei einem informellen Treffen der Innenminister der sechs größten EU-Mitgliedstaaten Anfang Juni aber einen Verteilungsschlüssel, der die schon aufgenommenen Flüchtlinge eines Landes stärker berücksichtigt. Ferner riefen sie die EU-Grenzstaaten auf, „alle erforderlichen rechtlichen und finanziellen Mittel zu ergreifen“, um die illegale Einwanderung zu verhindern.

EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos zeigte sich offen für Verhandlungen über den vorgesehenen Verteilungsschlüssel. Bündnis 90/Die Grünen und die Linkspartei kritisierten den deutsch-französischen Vorschlag als humanitär unverantwortliche Fortsetzung der europäischen Abschreckungs- und Abschottungspolitik.

Deutsche Flüchtlings- und Hilfsorganisationen wie PRO ASYL, Diakonie, AWO, der Paritätische Wohlfahrtsverband und die Neue Richtervereinigung äußerten hingegen Kritik an der geplanten „Zwangsverteilung“ der Betroffenen und setzen sich für mehr Selbstbestimmung der betroffenen Flüchtlinge ein.

Neuansiedlung

Über die Umsiedlung hinaus will die EU-Kommission demnächst eine Empfehlung vorlegen, um 20.000 Flüchtlinge aus Krisenregionen „sicher und legal in die EU zu bringen“ und neu anzusiedeln. UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon begrüßte die Pläne der EU-Kommission als einen Schritt in die richtige Richtung. Internationale Menschenrechtsorganisationen begrüßen den Vorschlag für ein Resettlement ebenfalls, wenngleich sie sich darin einig sind, dass die vorgesehenen 20.000 Plätze nicht ausreichen, um dem Ausmaß der aktuellen Fluchtbewegungen gerecht zu werden. Bis Ende 2015 wird ein weiterer Vorschlag der EU-Kommission für ein dauerhaftes gemeinsames EU-System für „krisenbedingte Umsiedlungen infolge des Massenzustroms von Migranten“ erwartet.

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